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Das Schicksal von Faten

Das Schicksal von Faten


Gestern Abend um 22 Uhr rief mein Chef mich an. Er habe einen neuen Auftrag für mich, sagte er. In meinem Kopf begannen sich nun hunderte verschiedener Szenarien abzuspielen und ich war unfähig, einzuschlafen. Worum ging es bei seinem späten Anruf?Am nächsten Morgen war klar, dass ich eine Recherche über geflüchtete Frauen und ihr Leben während der Corona-Krise machen sollte. "Aus einem für uns Journalisten unverständlichen Grund sind geflüchtete Menschen, insbesondere Frauen, nun plötzlich wieder im Hot-Spot der Medien", sagte mein Chef. 

Also bekam ich die Aufgabe, ein Flüchtlingsheim zu besuchen. Jenes direkt gegenüber des Flusses, gleich neben dem grünen Teil der Stadt. Dort sollte ich die Situation vor Ort recherchieren, die sich in Anbetracht der Corona-Krise entwickelt hat. Nun gut, ich habe diese Thematik wirlich gerne. Zuerst einmal deshalb weil ich mich privilegiert fühle, über einen Ort berichten zu dürfen, der in der üblichen Medienberichterstattung nicht vorkommt. Hier in der Schweiz über die Situation geflüchteter Menschen zu recherchieren ist vergleichbar damit, in einer wolkigen Nacht die Sterne am Himmel zu suchen. Natürlich weiss jeder, dass diese Sterne existieren, sie sind nur einfach so gut wie unsichtbar.

Wenn ich genauer darüber nachdenke ist es allerdings komplett falsch, diesem Thema eine Parabel über unsichtbare Sterne zugrunde zu legen. Sternenkonstellationen sind mit einer derartigen Fülle an Leben verbunden, die für den menschlichen Geist unfassbar ist. Die Thematik der geflüchteten Frauen in der Schweiz ähnelt dagegen mehr einer verlassenen Ecke in einem dunklen Keller, die mit vielen unaufgedeckten Wahrheiten gefüllt ist.

Ich nahm also die Aufgabe an und ging an den Ort, an dem "noch niemand vorher gewesen ist". Zunächst einmal ist es beinahe eine “mission impossible“während der Coronakrise in ein Flüchtlingszentrum zu gelangen. Schon unter normalen Umständen sind die Menschen dort strikt isoliert. Ein Problem das sich in dieser Zeit noch verdoppelt. Ich habe einige meiner eigenen Leute kontaktiert und dadurch gelang es mir in Kürze, mit der Zentrumsleitung zu telefonieren. Schon für den nächsten Nachmittag um 14 Uhr verabredete ich mich mit Nardos.

Der nächste Tag kam. Nardos antwortete mir über den Bildschirm am Eingang. Sie kam heraus, um das elektrische Tor zu öffnen und mich persönlich zu begrüssen. Sie stellte mir eine andere Frau mit dem Namen Faten vor, die mich durch die Einrichtung führen würde. Wie sich herausstellte, war Nardos gerade damit beschäftigt, ein somalisches Abendessen zu kochen und liess mich mit Faten allein. Nach der ausführlichen Händedesinfektion und dem Anziehen unserer Gesichts- und Atemmasken, begannen wir unseren Rundgang durch das Zentrum.

Obwohl ich Faten hinter ihrer Maske nicht ganz sehen konnte, blieb mein Blick an ihren warmen, braunen Augen haften, die intelligent und wach auf mich wirkten. Sie komme ursprünglich aus dem Iran und lebe nun schon seit 6 Monaten hier, so stellte sie sich mir gegenüber vor. In der Schweiz wird in einem ersten Gespräch niemand versäumen, diese Frage nach der Herkunft zu stellen. “Ursprünglich“  war eines der ersten Worte, das ich selbst auf deutsch gelernt habe, noch bevor ich überhaupt Deutschunterricht hatte. Ohne es zu erwarten, kam dieses Wort in jedem einzelnen Gespräch irgendwann vor. “From Gorno Nerezi” dachte ich immer bei mir. Doch wem konnte ich wirklich die tiefe Bedeutung erklären, die dieser Herkunftsort für mich hat und würde mein Gegenüber jemals fähig sein, die Antwort wirklich zu verstehen? Aber nun, das ist gerade nur eine kleine Nebengeschichte, denn wir haben schliesslich unsere Tour durch das Flüchtlingszentrum noch vor uns.

Wir gingen in das Gebäude hinein, wie immer durch die inofizielle Hintertür. Hier stossen wir zuallererst in den Waschraum. Der Trockner und die Waschmaschine bewegen sich in einem synchronen Rhythmus und machen aussergewöhnlich viel Lärm, der unsere Unterhaltung immer wieder unterbricht. An der Wand hängt eine unendliche Anzahl von Babykleidern, in allen Farben und Grössen. Wir gehen schnell weiter in den nächsten Raum und sind froh, den Lärm hinter uns zu lassen.

Vorsichtig und ohne zu viel zu sprechen führte Faten mich durch das ganze Haus. Jedesmal wenn sie etwas sagte, fühlte ich eine spezielle Art von Angst in ihrer Stimme, die wie ein leichtes Zittern klang. Ich konnte ihr Gesicht nicht ganz sehen, aber ich konnte ihre Empörung fühlen. Wir gingen kurz in die Küche, wo wir Nardos wieder trafen, versteckt hinter ihren Wolken exotischer Düfte, die von ihrem somalischen Essen aufstiegen.

Nach der Küche gingen wir die unglaublich steilen Treppen hinauf in den ersten Stock. Verglichen mit dem Erdgeschoss gab es hier oben viel mehr Tageslicht. “Hier sind die zwei Räume unserer Chefs“, sagte Faten zu mir. “Bitte hilf mir zu verstehen, erwiderte ich ihr. “Was meinst du mit eure Chefs?“ Ich fragte sehr überrascht, denn ich hatte hier nicht mit irgendeiner Art von Führungskräften gerechnet. “Nun, das ist der Arbeitsplatz unserer beiden Chefs, sagte Faten erneut, mit ihrer leichten Bitterkeit in der Stimme. “Zwei Männer aus der Schweiz kommen regelmässig in unser Haus, um zu überprüfen, wie viele von uns tatsächlich wieder zurück nach Hause kommen“, so versuchte sie mir deren Position zu erklären. “Ihre Aufgabe besteht momentan darin, unsere Anzahl zu überprüfen, mehr nicht. Sie sind nicht hier, um sich mit uns oder irgendeinem unserer Probleme zu beschäftigen“. Mein journalistischer Blick registrierte sofort, dass deren Büroräume den grössten und zentralsten Platz dieses gesamten ersten Stockwerks einnahmen. Diese Räume zu betreten war natürlich nicht möglich, da sie immer verschlossen sind. 

Wir hatten den Rundgang um das Haus bald beendet und Faten lud mich zu einem arabischen Kaffee in den Garten ein. Ich war neugierig darauf, mehr über ihre Geschichte als Frau mit Flüchtlingshintergrund zu erfahren. Wie kam sie hierher und aus welchem Grund? Der Kaffee wurde genauso bitter wie ihre Geschichte.

Faten hatte an der Akademie für darstellende Künste im Iran studiert und danach als Schauspielerin für ein lokales Theater gearbeitet. Während dieser Zeit geriet ihr Mann in einige sensible politische Aktivitäten, die von der Regierung als verdächtig eingestuft wurden. Eines Tages wurde sie auf die Polizeistation für ein Gespräch eingeladen. Dort wurde sie darüber aufgeklärt, dass die Beamten alles über sie wussten und sogar alle Details über ihre Liebesaffäre mit einem anderen Mann kannten. Sie wurde darüber informiert, dass sie ab sofort für Polizei und Regierung zu arbeiten und Informationen über ihren Mann zur Verfügung zu stellen hätte, wenn sie nicht für Ungläubigkeit im Gefängnis landen wolle. Sie erwarteten von mir, dass ich zu einer Spionin meiner eigenen Familie werde“ erzählte mir Faten.

Sie fand sich selbst in einer extrem schwierigen Situation wieder. Einerseits könnte sie niemals ihren eigenen Ehemann ausspioneren, mit dem sie ein gemeinsames Kind hatte. Andererseits war sie völlig in Schrecken davor, dass die Polizei tatsächlich ihre Liebesaffäre aufdecken könnte, denn sie hatten Recht damit. Sie hatte eine Affäre mit einem Kollegen aus einem anderen Theater begonnen, den sie auf einer gemeinsamen Tour vor zwei Jahren kennengelernt hatte.

So etwas wie für ihn hatte ich zuvor noch nie für jemanden gefühlt. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben fähig, Liebe zu empfinden. Ich wurde verheiratet als ich 14 war, in einer arrangierten Ehe. Meinen Sohn bekam ich mit 15. Ich musste tun, was meine Familie von mir erwartete, wie meine Mutter und meine Schwiegermutter es mich gelehrt hatten und wie das in meiner Tradition üblich war. Ich hatte niemals das Gefühl, ein eigenes Leben zu haben. Bis ich begann für das Theater zu arbeiten und bis ich ihm begegnete, meinem Geliebten. Erst dann begriff ich, was es bedeutete, mein eigenes Leben zu leben. Erst dann konnte ich verstehen was es heisst, einen Mann wahrhaft zu lieben. Niemand wird mir jemals diese Gefühle wegnehmen können. Ich wurde zu einer geliebten Frau. Und ich liebte einen Mann. Ein Gefühl, das ich für immer in meinem Herzen bewahren werde“, sagte Faten und ihre warmen braunen Augen begannen zu funkeln.

Wenn im Iran eine Frau in Untreue verwickelt ist, endet sie im Gefängnis. Die Frau kann durch ihre Familie mit einem Lösegeld wieder befreit werden, sie kann in Rechnung gestellt werden, aber ihr Leben ist dann für immer ruiniert“, sagt Faten nach einer kurzen Pause. Ich wollte kein Leben in Scham leben und ebensowenig wollte ich das Leben meines Mannes, meines Sohnes und meines Geliebten zerstören. Es gab keinen anderen Weg, als aus meinem Land zu verschwinden. Deshalb entschied ich zu fliehen. Eines Nachts, ohne jemandem ein Wort zu sagen, nahm ich einen Flug in den Irak, nach Baghdad. Mit der Hilfe meiner Cousine floh ich von dort nach Zürich. Ich kam allein und ohne jegliche Güter in meiner Tasche. Nun bin ich hier und ich kann nichts weiter tun. Mein Leben, wie es bisher war, ist eine Geschichte die zu Ende ist“.

Und wo sind dein Mann und dein Kind?“ Ich versuchte, so vorsichtig wie möglich zu fragen. Sie sind noch immer im Iran“, sagte Faten ruhig und sie hatte das, für mich überraschenderweise, als die beste Option für die Beiden berücksichtigt. Aber ich weiss nicht, wo er ist“ ergänzte sie und blieb dann still.

Wir schwiegen eine Weile. Faten sah weit in die Ferne, als ob sie in diese wunderschönen Momente ihres Lebens zurückschauen würde. Dann sagte sie mit einer erstaunlichen Ruhe in ihrer Stimme, dass ich meinen Kaffee trinken sollte, damit er nicht kalt wird. Langsam begann ich die Umgebung des Gartens wahrzunehmen, wo wir uns wieder gemeinsam hingesetzt hatten. Ich begann mich an den Grund zu erinnern, für den ich ursprünglich hierher gekommen war. Ich habe eine Mission und muss einen Report über die Corona-Situation in einem Flüchtlingszentrum für Frauen schreiben! Unglücklicherweise musste ich so ihre traurige Geschichte mitten in ihrer Erzählung unterbrechen und ihr eine ganz andere Frage stellen.

Entschuldige Faten, könntest du mir etwas mehr über die Corona-Krise in diesen Tagen erzählen? Wie gehst du damit um? Mit welchen Schwierigkeiten bist du konfrontiert? Bist du in der Lage, den Vorschriften zu folgen?“

Du möchtest über Corona sprechen ?!“ freute sich Faten plötzlich voller Energie. Corona ist ein Segen für mich!“ rief sie. Das war eine Antwort, die ich zuallerletzt erwartet hatte. Nach dem Bericht ihres eigenen Schicksals war dieser plötzliche Schub von Positivität wie ein Donner, der durch die Dunkelheit hallt.

Natürlich war ich zu Beginn furchtbar verängstigt, als ich vom Virus erfuhr. Ich begann alles zu desinfizieren, das ich zu sehen oder anzufassen bekam. Ich war wie verrückt geworden. Die Hygiene ist in diesem Haus sowieso ein grosses Problem, aber mit dem Corona-Virus wurde es unerträglich. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht sterben, ohne meinen Lieben wiedergesehen zu haben, meinen Sohn. “Ihn“...sagte Faten, mit Tränen in ihren Augen.

Fatens Geliebter endete im Gefängnis, kurz nachdem sie selbst aus dem Land geflohen war. Die Autoritäten im Iran kamen zu dem Schluss, dass er mit ihr gemeinsame Sache machte und wähnten sie als Spionin, die illegal den Iran verlassen hatte. Er war in einem Ermittlungsverfahren, bis zu dem Moment, als das Virus das Gefängnis erreicht hatte. Die Behörden beschlossen dann, einige der Gefangenen nach Hause zu lassen und dort unter Arrest zu stellen. Nur einen Monat später gelang es ihm, von zu Hause zu fliehen und das Land zu verlassen. Aber er verschwand. Nun weiss niemand, wo er ist.

Auch Faten selbst weiss nicht, wohin ihr Geliebter verschwunden ist. Sie hofft jedoch darauf, dass sie eines Tages einen Anruf von ihm erhalten wird. “Für diesen Tag lebe ich“, sagte sie zu mir mit einem traurigen Lächeln. “Wofür sonst sollte ich leben? Ich lebe für diesen Tag, an dem ich seine Stimme am Telefon hören werde. Ich habe sonst nichts, für das sich zu leben lohnt. Ich bete jede Nacht für ihn. Und tief in meinem Herzen weiss ich, dass er lebt“.

Nicht allein Faten, sondern jede dieser Frauen dort trägt ein ähnliches Schicksal. Sie teilen jedoch nicht nur ein ähnliches Schicksal, sondern auch ihre Liebe. Denn nur die Liebe kann einer Frau so viel Kraft geben, um gegen diese unmenschlichen Bedingungen zu kämpfen. Vertrieben oder verlassen leben sie alle für diesen einen Moment, wieder mit ihren Geliebten vereint zu werden. Sie alle leben für diesen Augenblick, über den das Schicksal entscheidet. Ich verliess das Haus mit derselben Hoffnung wie sie. 


Primjedbe